Nachkriegsweihnacht in Lübeck

01.12.2016
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Liebe Leserin, lieber Leser,

Weihnachtszeit, schöne Zeit! In einer Zeit des Wohlstands vergisst man häufig, wie es früher einmal war, aber besonders die Älteren, zu denen ich gehöre, erinnern sich noch sehr gut an die Nachkriegs-Weihnachten in einer zerbombten Stadt, der ehrwürdigen alten Hansestadt Lübeck, wo ich 1945 geboren wurde. Die schöne Altstadtinsel Lübecks war in der Palmarumsnacht am 28./29. 3. 1942 zu über 30 % als erste deutsche Stadt von den britischen Bombern zerstört worden. 320 Tote, 1.500 zerstörte Häuser und 15.000 Obdachlose waren das furchtbare Ergebnis einer einzigen Bombennacht. 1948 waren noch 100.000 m³ Schutt zu räumen. Auch mein Vater war in dieser schrecklichen Nacht in Lübeck ausgebombt und bekam mit viel Mühe eine Notwohnung in der Dankwartsgrube an der Obertrave, wo ich die ersten zwölf Jahre verbrachte. Tausende von Flüchtlingen aus den deutschen Ostgebieten, vorwiegend aus Ost- u. Westpreußen, Danzig, Pommern und dem Baltikum waren nach Lübeck, meist über die Ostsee, geflüchtet. Lübecks Einwohnerzahl stieg um 100.000 Flüchtlinge und Heimatvertriebene an, Schleswig-Holstein verdoppelte sich auf über 2 Millionen Einwohner.

Als Nachkriegskind nahm man dies nur am Rande wahr. Unsere Nachbarn kamen aus Ostpreußen und ihre Kinder waren meine ersten Spielgefährten. So ist mir der ostpreußische Dialekt noch heute in prägender Erinnerung, zumal wir auch Verwandte meines Vaters aus Königsberg aufgenommen hatten und Vater selbst aus Westpreußen stammte.

Noch heute erinnere ich mich an mein erstes Weihnachtsfest. Draußen war schon Schnee gefallen. Ich muss wohl erst drei Jahre alt gewesen sein, als nach langem Warten, wo meine Großmutter mir durch das Erzählen früherer Weihnachtsgeschichten die Zeit abzukürzen versuchte, endlich die Glöckchen zum Eintritt in das festlich erleuchtete Wohnzimmer, erklangen. Welch‘ eine Pracht, ein buntgeschmückter Weihnachtsbaum erstrahlte im Wohnzimmer, wo mich die Eltern erwarteten. Meine Frage, wo denn der Weihnachtsmann wäre, wurde beantwortet, dass dieser gerade dagewesen, aber in großer Eile wäre, da ja schließlich noch viele Kinder am Heiligen Abend beschenkt werden wollten. Ich gab mich damit zufrieden und erblickte die schönen Geschenke auf dem Weihnachtstisch: ein Baukasten, ein Eisenbahnwagen mit Hölzern,  ein Kriegsschiff und ein U-Boot aus Holz und natürlich ein Bilderbuch; denn Bücher durften bei uns nie fehlen. Dazu ein paar kleine Plätzchen. Wie ich viel später aus den Gesprächen der Erwachsenen entnahm, waren es alles noch gut erhaltene Spielsachen aus der Vorkriegs- und Kriegszeit meines älteren Vetters. Neues Spielzeug war in den ersten Nachkriegsjahren rar und nach der Währungsreform 1948 sehr teuer. Wir Kinder spielten alle noch mit Soldaten, Panzern und Kanonen und auf den Straßen und in den Wallanlagen später wilde Soldatenspiele mit aus der Trave gefischten Militärutensilien, die am 2. Mai 1945 bei Einmarsch der Briten in Lübeck von unseren Soldaten dort entsorgt wurden. Krieg und Elend war für uns Kinder nur ein recht abstrakter Begriff. Wir spielten in den Ruinen, suchten in den zerbombten Kellern und Ruinen im total zerstörten Gründerviertel unterhalb der Marienkirche nach Altmetall und häufig kam es durch nicht fachgerechten Umgang beim „Kupferklopfen“ an den vielen Blindgängern zu schlimmen Unfällen.

Aber zurück zum Heiligenabend 1948 im Elternhaus. Nach der Bescherung spielte meine Mutter, sie war Pianistin, Klavier und wir sangen die alten Weihnachtslieder. Dazu gesellten sich zur späteren Stunde einige Hausbewohner und brachten kleine Geschenke für mich mit. Es war mein erstes intensiv erlebtes Weihnachtsfest. Der Krieg und das Leid der Nachkriegszeit, Flucht, Vertreibung, Hunger, Kälte, Tod und Gefangenschaft waren stets der Hauptgesprächsstoff der Eltern und aller Gäste am Weihnachtsfest, schließlich hatte Deutschland den Krieg verloren. Viele waren gefallen, so auch mein Bruder Reinhard, der noch kurz vor Kriegsende als Flugzeugführer mit seinem Flugzeug bei Limburg abgeschossen wurde, während mein Bruder Horst gerade aus der französischen Kriegsgefangenschaft entlassen worden war, aber viele andere Verwandte waren noch in Russland vermisst oder in sowjetischer Gefangenschaft, teilweise bis 1956. Die Eltern kämpften um das tägliche Dasein, um Lebensmittel und Heizmaterial und tauschten die letzten noch vorhandenen Wertgegenstände ein, um mich aufzuziehen. Dafür bin ich ihnen ewig dankbar!

Wir waren nach dem Kriege meist alle arm und freuten uns über den Tannenbaum und Gabentisch am Heiligen Abend, über ein paar Plätzchen und etwas selbstgebackenen Kuchen. Wir waren dankbar! Etwas, das ich heute sehr vermisse, wenn Kinder so übermäßig vom Konsum überschüttet werden, von Eltern meist, die durch den Beruf wenig Zeit, dafür aber häufig ein schlechtes Gewissen haben. Kinder freuen sich, wenn Eltern sich etwas Zeit für sie nehmen, mit ihnen spielen, ihnen vorlesen, statt ihnen das neueste Smartphone, Tablet oder den modernsten TV mit noch größerem Breitwandbildschirm zu schenken, sie mit Luxus zu überhäufen. Etwas Gemeinsames zu unternehmen ist viel wichtiger! Vielleicht sollten wir in der Weihnachtszeit einmal daran denken, uns in dieser kurzen Zeit der Festtage und Weihnachtsferien intensiv den Nächsten zu widmen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen eine frohe Adventszeit und Vorfreude auf Weihnachten!

Manfred Lietzow